Gesellschaft für Arbeit, Technik und Wirtschaft im Unterricht e.V./ Günter Reuel: Berufswahl - Blindprobe oder Probehandeln?

Zu den Rätseln des Erwachsenwerdens gehört die Berufswahl Jugendlicher. Weder ist sie nur ein voluntaristischer Akt, noch gründet sie auf Selbstprüfung anhand gemachter Erfahrungen. In traditionalen Gesellschaften war die Berufswahl der Jungen durch den Vaterberuf zwar nicht festgelegt, aber weit gehend vorgezeichnet. Bauernjungen wurden Bauern, Generalssöhne wurden Fähnriche. Aber auch bei Abweichungen von dieser Regel verblieb man in dem standesgemäßen Formenkreis der Berufe. Moderne Gesellschaften haben das nicht radikal, aber doch signifikant geändert. Dazu gehört auch, dass die Mädchen ihre Berufswünsche anmelden.

Die neue Offenheit hat enorme Orientierungsschwierigkeiten mit sich gebracht, um deren Abbau sich Schulbürokratie und Arbeitsverwaltung sorgen. In den Schulen gibt es "Berufswahlunterricht", der hoffentlich besser ist als die dümmliche Bezeichnung. Die Arbeitsämter haben Berufsinformationszentren eingerichtet, in denen man Berufsbeschreibungen nachschlagen, aber selbstverständlich keine Arbeitserfahrungen machen kann.

In der klassischen Berufswahl-Literatur, namentlich derjenigen psychologischer Provenienz, ist von "Eignung" und "Neigung" die Rede. Eignung soll etwas Naturwüchsiges sein: Ein 1,60 Meter großer Jüngling kann schlechterdings nicht Basketball-Profi werden. Eine farbenblinde junge Dame wäre schlecht beraten, würde sie Modeberaterin. Lässt man derartige Kalauer beiseite, kann die schon von Scharmann (vgl. Scharmann 1965) erwähnte enorme Plastizität des jungen Berufswählers bestätigt werden. Heute kann eine zarte junge Frau einen 20-Tonner LKW lenken und ein vollbärtiger Vierschrot wäre wahrscheinlich kein schlechter Kindergärtner.

Ungleich komplizierter verhält es sich mit der Neigung. Was ist Neigung, wie kommt sie zustande? Wie "geneigt" ist ein Jugendlicher, der noch nie in seinem Leben ein Stück Stahl gefeilt hat, sich aber hartnäckig um einen Ausbildungsplatz als Industriemechaniker bewirbt? Warum strebt ein junges Mädchen obsessiv den Beruf der Arzthelferin an, hat aber weder Erfahrungen mit therapeutischen Techniken noch mit der Verwaltung von (Patienten)- Dateien? Schließlich können Neigungen gar nicht manifest werden, wenn das Objekt der Begierde völlig unbekannt ist.

Die meisten Berufe aber sind dem gewöhnlichen Absolventen unserer "allgemein bildenden" Schule unbekannt. Ja, viele Jugendliche haben eine nur sehr vage Vorstellung von den Berufen ihrer Eltern. Lange Zeit war man davon überzeugt, dass eine strikte Arbeitsteilung zwischen Allgemeinbildung und Berufsbildung sinnvoll sei. Mit der konzeptionellen Ausarbeitung einer Arbeitslehre wurde zweierlei deutlich: Das was bisher euphemistisch "Allgemeinbildung" genannt wird, ist mitnichten eine solche. Andererseits wurden die Brüche in Berufskarrieren zum Anlass, die fachliche Verengung des Berufsausbildungssystems zu problematisieren. Die Schwellensituation "Berufswahl" hätte eigentlich längst deutlich machen müssen: Arbeitslehre gehört zur Allgemeinbildung, denn n u r die Arbeitslehre macht Berufswahl zu einem reflektierten und Arbeitserfahrungen bereitstellenden Prozess.

Noch ist die Berufswahl häufig kein Prozess, sondern eine mehr oder weniger kurze Zeit der Ratlosigkeit, der man mit Ratgeberliteratur beizukommen sucht.

Wir müssen nun den Katalog der die Berufswahl determinierenden Faktoren erweitern. Eignung und Neigung können nicht suspendiert, sollen aber ergänzt werden.

  1. Eignung
  2. Neigung
  3. Regionale Ausbildungsangebote
  4. Platzierung im hochselektiven Schulsystem
  5. Symbolgehalt vieler Berufe im Alltagswissen
  6. Identifikation mit Personen, die primär nicht wegen ihrer beruflichen Leistung geschätzt werden
  7. Mehr oder weniger zutreffende Informationen über materielle Vorteile der Berufsausübung

Eignung verliert an Bedeutung, weil die früher eine viel größere Rolle spielende Körperkonstitution durch allgegenwärtigen Technikeinsatz kompensiert wird. Andererseits nehmen Fälle von Nichteignung infolge allergischer Reaktionen zu.

Neigung fällt nicht vom Himmel, sondern wird durch ein Anregungsmilieu erzeugt. Wir werden uns deshalb im zweiten Teil des Aufsatzes mit dem Anregungspotenzial der Arbeitslehre beschäftigen.

Regionale Ausbildungsangebote divergieren selbstverständlich auch in dichtbesiedelten Industrieländern wie der Bundesrepublik. Die noch eingeschränkte Mobilität von 16jährigen Schulabgängern und die strukturell gar nicht vorhandene Möglichkeit, fernab vom elterlichen Wohnsitz eine Ausbildung zu machen (Lehrlingswohnheime), reduzieren Berufswahlmöglichkeiten.

Die Platzierung im hochselektiven Schulsystem entscheidet über berufliche Ausbildungsmöglichkeiten. Wenn Betriebe nur Realschulabsolventen oder gar nur Abiturienten ausbilden wollen, ist die grundgesetzlich verbürgte Freiheit der Berufswahl bereits nach Klasse 4 der Grundschule eine Fiktion. Bei Hauptschülern und Sonderschülern von einer Wahlfreiheit zu sprechen, grenzt an Zynismus.

Unabhängig von objektiven Anforderungsmerkmalen des Berufes hat jeder Beruf einen Symbolgehalt, der sich im Alltagswissen mitteilt. Am Outfit des Berufsträgers, am Ambiente, in dem der Beruf ausgeübt wird, an Wertezuschreibungen, etwa bei Helferberufen, orientieren sich Jugendliche - eine unvermeidliche, aber auch völlig unzulängliche Praxis.

Die Identifikation mit Personen kann vielschichtige Gründe haben. Dabei treten auch Imitationsversuche hinsichtlich der Berufseigenschaften des Vorbildes auf. Gespräche mit Lehramtsstudenten zeigen, dass in ihrem Schülerleben ein charismatischer Lehrer den Wunsch weckte, auch Lehrer zu werden.

Berufswahl war noch nie ein rein idealistischer Akt. Der Jugendliche muss fragen dürfen, welche materiellen Erwerbschancen sich ihm bieten. Wenn aber das Sicherheits- und Versorgungsdenken gar nicht zu einer Berufswahl sondern zu einer Statuswahl (Beamter) führt, zeugt das von einer gewissen Strukturlosigkeit der Person.

Bei dieser groben Skizze der Berufswahldeterminanten wollen wir es bewenden lassen. Es sollten aber noch zwei aktuelle Diskussionslinien wenigstens angesprochen werden. Erstens geht es um die allgemeine Verknappung von Ausbildungsmöglichkeiten, die im Extremfall eine Berufswahl völlig suspendiert, und den Jugendlichen zu einer Akzeptanz jedweder Ausbildungsmöglichkeit zwingt. Hier muss man die Verantwortlichen in der Privatwirtschaft und im politischen System schärfstens kritisieren. Bedarfsrechnungen und Kostenüberlegungen dürfen niemals eine freie Berufswahl versperren. Viel zu wenig wird die Tatsache gewürdigt, dass Berufe, vorausgesetzt der Nachwuchs ist vorhanden, sich auch innovative Tätigkeitsfelder schaffen. Diese sind nicht immer identisch mit dem normierten Berufsbild. Ein verbreitetes Missverständnis besteht darin, die Berufswahl als abhängige Variable von Bedarfsmeldungen der Unternehmen zu sehen.

Die zweite Provokation ist das Gerede vom Ende der Beruflichkeit. Eine ganze Reihe von Schreibtischtätern will uns dies weismachen. Die Verkünder selbst haben meistens noch nie an einen Wechsel ihrer Tätigkeit gedacht. Jenes Fähigkeitsbündel, das den Beruf ausmacht, muss von Zeit zu Zeit neu geschnürt werden, eine Kernsubstanz jedoch ist notwendig und wird hoffentlich nicht durch "hohe Flexibilität", vulgo: willenlose Anpassung, ersetzt.

Ich komme jetzt zu meinem eigentlichen Anliegen, zum Anregungsmilieu der Arbeitslehre, und zu der These, dass in unseren Schulen viel stärker als bisher berufspropädeutisches Probehandeln möglich sein muss. In einer Zeit, die durch fragwürdige Interpretationen einer TIMSS-Studie aufgescheucht ist, hört man nicht gerne das Wort "Probehandeln"; Schule muss doch wieder eine ernste, leistungsorientierte Angelegenheit werden. Deshalb bedarf dieses Wort einer Erläuterung.

Die Arbeitslehre agiert auf drei berufspropädeutischen Handlungsebenen:

  1. In Schulwerkstätten machen Jugendliche Erfahrungen mit Werkstoffen und Verfahren, sie organisieren ihre Arbeit, sie beschaffen Vorprodukte und sie entscheiden über die Verwendung der Arbeitsergebnisse. Diese Erfahrungen führen zwangsläufig zu Fragen an die Arbeitsorganisation in Betrieben.
  2. Deshalb sind Betriebserkundungen und Betriebspraktika eine logische Folge des sich herausbildenden Fragehorizonts.
  3. Auf diese Weise entwickeln sich Neigungsprofile, die auf ein Korrektiv durch formale Rahmenbedingungen des Berufszugangs und durch statistische Daten angewiesen sind. Über beides verfügt die Berufsberatung, die es gezielt auszubeuten gilt.

Überall dort, wo die erste Handlungsebene fehlt, gleichen die Ebenen zwei und drei Zufallsbegegnungen, mit nicht kalkulierbaren Ausdeutungen durch die Persönlichkeit des Jugendlichen.

Die Arbeit in den Schulwerkstätten muss natürlich das Bastelniveau überwunden haben. Baukästen, Laubsägen und Sticktücher sind untauglich für das Entdecken von Berufsneigungen. Der Werkzeuggebrauch muss entfernte Ähnlichkeit mit Berufsarbeit haben. In Berlin stehen in den Schulwerkstätten professionelle Maschinen, für deren Bedienung durch Schüler eine Regelung gefunden wurde. Das weithin noch gültige Maschinenverbot für Jugendliche unter 18 Jahre ist Ausfluss eines obsoleten Schonraumdenkens.

Dass die Arbeit in den Werkstätten keine Berufsarbeit sein kann und will, ergibt sich aus der Abwesenheit zahlreicher Zwänge, die nun mal für Berufsarbeit konstitutiv sind. Aber auch Experimente im naturwissenschaftlichen Unterricht haben mit Forschung wenig gemein und der Deutschunterricht ähnelt kaum dem Berufsalltag eines Journalisten. So gesehen können wir also auf das "Probehandeln" zurückkommen, bei dem man eine Vielzahl von Neigungen nicht entdecken, aber entwickeln kann!

  • Die Verarbeitung von Holz, Metall und Kunststoffen macht die Spezifik dieser Werkstoffe erlebbar.
  • Die Lebensmittelverarbeitung, früher nur als Kochkurs verstanden, wird auf den Hintergrund eines großen Wirtschaftssektors projiziert.
  • Textile Werkstoffe sind das Material, von dem sich verschiedene Branchen ableiten, mit herstellenden, pflegenden und gestalterischen Schwerpunkten.
  • Arbeitsverfahren werden in elementarer, handgesteuerter Version erprobt, unter Einsatz von Vorrichtungen für die qualitätssichernde Wiederholbarkeit und in Ansätzen auch als programmgesteuerte Maschinenführung. Damit werden drei Rationalisierungsstufen sinnverstehend durchlaufen.
  • Materialverwaltung, Zeichnungen lesen und verstehen, Terminplanung, Arbeitsteilung und -zusammenführung sind dispositive Fähigkeiten, ohne die eine Produktion - und sei es auch nur eine im bescheidenen Maßstab der Schulwerkstatt - nicht funktioniert.
  • Kaufmännisch-verwaltende Tätigkeiten sind heute durchgängig computerisiert. Anstatt in Computerkursen isolierte Routinen zu "lernen", stellt die Arbeitslehre mit einem Lernbüro so etwas wie ein ganzheitliches Anregungsmilieu zur Verfügung.
  • Um den wachsenden Sektor der sozialpflegerischen Berufe kennen zu lernen, müssen die Schüler Lernorte außerhalb der Schule aufsuchen. Die Arbeitslehre hat kleine Betreuungs- und Serviceprojekte mit kooperationsbereiten Einrichtungen entwickelt.
Schüler, die diesen Erfahrungshintergrund erworben haben, treffen eine bewusstere Berufswahl - aber auch Abwahl - als alle jene, die auf die Kernarbeitslehre verzichten wollen/ müssen und bestenfalls an einer belehrenden "Berufsorientierung" teilnehmen.

Abschließend eine kurze Bemerkung zu dem Katechismus der Berufsorientierung, dem Berufswahlordner Mach's Richtig. Dieses sechsteilige Werk wird bundesweit allen Schülern der Abschlussklassen von der Bundesanstalt für Arbeit in die Hand gedrückt. Psychologisch nicht sonderlich genial ist der häufig eingestreute Hinweis:

"Je mehr du bereit bist, auch nach dem Ende deiner Ausbildung Neues dazuzulernen, umso besser wirst du in Zukunft in deinem Beruf zurechtkommen - oder später einmal in einen anderen Beruf wechseln können." (Bundesanstalt für Arbeit 2002, S. 20)

Ob man jungen Menschen, die noch ganz im Banne des Neuanfangs stehen, eine drohende Entwertung des erst noch zu Lernenden prophezeien muss, ist zumindest fragwürdig.

Viel bedrückender aber sind die endlosen Appelle: "Stell dir vor", "versuche dich hineinzuversetzen", "trau dich"! "schau dich um"! Bei "schau dich um" lesen wir:

"Wenn du durch die Straßen und Läden gehst, begegnen dir Menschen, die gerade ihrem Beruf nachgehen. Wer genau hinsieht, kann viel über die Berufe erfahren ...".(Bundesanstalt für Arbeit 2002, S. 12)

WO, WAS, und WOMIT sind drei (untaugliche) Schlüsselfragen, mit denen man angeblich Berufskategorien ordnen kann. Antwortete ein Jugendlicher auf die Frage WO er arbeiten wolle mit "unter Wasser" käme nur der Berufstaucher infrage. Antwortet er mit "im Freien", kommen so unterschiedliche Berufe infrage, dass der Ordnungsgewinn gleich null ist. Bei "WAS will ich tun" wird "reparieren, verkaufen, untersuchen, bedienen" angeboten. Diese Tätigkeitsaggregate haben keinerlei Trennschärfe. Es gibt so viele Formen des Verkaufens, die untereinander stärker differieren als verkaufen und reparieren. Damit der Schüler sich unter "WOMIT habe ich vor allem zu tun" etwas vorstellen kann, wird ihm gesagt, ein Tischler habe es mit dem Hobel zu tun. Ohne die von ehrlichem Bemühen getragene Ratgeberliteratur verächtlich machen zu wollen, man muss sich doch einigermaßen wundern, wenn mit ihrer Hilfe ein Jugendlicher kompetenter seinen Beruf wählte.

Literatur

Scharmann, Theodor (1965): Jugend in Arbeit und Beruf, München

Baumert, J. u. a. (1997): TIMMS - Mathematisch-naturwissenschaftlicher Unterricht im internationalen Vergleich. Deskriptive Befunde, Opladen beginnen

Bundesanstalt für Arbeit (Hrsg.) (2002): Mach's Richtig, ein Berufswahl-Ordner, ergänzt um ein Computerprogramm