Berufsorientierung - Einführung in das Thema

Berufsorientierung - Einführung in das Thema

Gerd-E. Famulla, Claudia Schreier

Berufsorientierung umfasst alle Aktivitäten, die dazu beitragen, die Entscheidungsfähigkeit der Jugendlichen bei der Gestaltung ihrer Arbeits- und Berufsbiographie zu verbessern. Als eine Bildungsaufgabe ist Berufsorientierung eng an die Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen gebunden, die nach einer Antwort auf die Frage suchen, welchen Beruf sie ergreifen und welchen weiteren Bildungsweg sie einschlagen sollen. Bei diesem Suchprozess werden zentrale Fragen nach der Zukunft von Erwerbsarbeit und Beruf berührt, mit denen sich nicht zuletzt Leitbilder und Lebenspläne der Jugendlichen verbinden. Gewandelte Ansprüche der Jugendlichen treffen auf gravierende Veränderungen des Arbeitsmarktes und des Beschäftigungssystems:

  • Der Arbeitsmarkt ist durch eine zunehmende Verlagerung von Erwerbstätigkeiten vom industriellen Produktions- in den Dienstleistungsbereich gekennzeichnet. Dabei entstehen in steigendem Maße Erwerbsformen wie Teilzeitarbeit, Werkvertrags- und Leiharbeit bis hin zur Selbstständigkeit, die im bestehenden System der sozialen Sicherheit nicht abgedeckt sind. Gleichzeitig ist der Arbeitsmarkt auf Grund der modernen Kommunikations- und Transportsysteme von einem hohen internationalen Wettbewerbsdruck und damit einhergehend starken Flexibilisierungstendenzen und erhöhten Leistungsanforderungen geprägt.
  • Durch das seit Jahren steigende Missverhältnis zwischen Arbeitsplatzangebot und Arbeitsplatznachfrage, aber auch durch die geänderte Einstellung zu Arbeit, Familie und Freizeit, die den Wunsch nach selbstständiger Lebensgestaltung ebenso beinhaltet wie den nach einer sinnvollen Beschäftigung, gewinnen Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit zunehmend an Bedeutung. Die Vorbereitung auf eine flexibel gestaltbare Erwerbsarbeit wird deshalb künftig ebenso zum Gegenstand der Arbeits- und Berufsorientierung gehören müssen, wie die Eigenarbeit und die öffentliche oder soziale Arbeit. Letztere gewinnen in dem Maße an Bedeutung, wie die Wochenarbeitszeit schrumpft und andere Tätigkeiten an öffentlicher Wertschätzung gewinnen.
  • Sowohl die anhaltenden Probleme um die Sicherung eines auswahlfähigen Ausbildungsplatzangebots seitens der Betriebe als auch die Probleme, Ausbildungsplätze mit ausreichend qualifizierten Kräften besetzen zu können und die daran anschließende Diskussion um die Zukunft und Reform des dualen Systems der Berufsbildung bestimmen heute in großen Teilen die berufsbildungspolitische Debatte. Besonders schwierig gestaltet sich der Übergang vor allem für diejenigen Jugendlichen, die weder über einen Schulabschluss noch über neue und zusätzlich geforderte Kompetenzen verfügen, während gleichzeitig die Konkurrenz um qualifizierte Ausbildungsplätze härter geworden ist. Nach den Prognosen der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung wird insbesondere für gering Qualifizierte das Arbeitsplatzangebot weiter schrumpfen. Aber auch höher Qualifizierte in abhängiger Beschäftigung werden nicht mehr die Sicherheit des Arbeitsplatzes vorfinden, die für sie bis in die siebziger Jahre anzutreffen war.
  • Berufliche Tätigkeiten werden heute immer weiter ausdifferenziert. Zu konstatieren sind heute rund 30.000 Berufsbezeichnungen und etwa 365 Ausbildungsberufe. Zugleich verringert sich die Bedeutung des Berufs für die Integration in den Arbeitsmarkt und die Sicherheit des Arbeitsplatzes. Berufsbilder unterliegen gleichzeitig durch Technisierung und Dienstleistungsorientierung einem schnellem inhaltlichen Wandel. Während die Ansprüche an fachliche Kompetenzen in vielen Berufsfeldern permanent steigen, werden gleichzeitig zusätzliche Fähigkeiten, vor allem in Bezug auf soziale und kommunikative Kompetenzen, gefordert. Als Konsequenz behält der Beruf zwar eine Leitfunktion für den Übergang von der Schule in das Wirtschaftsleben, er beginnt aber zunehmend in die Zielformel "berufliche Handlungsfähigkeit" und hierzu gehöriger Einzelkompetenzen wie Fach-, Sozial-, Methoden- und Selbstkompetenz überzugehen.
  • Dadurch ändert sich die Bedeutung der beruflichen Ausbildung und die Berufswahl. Die soziale Sicherheit, den Ausbildungsberuf ein ganzes Leben lang, womöglich noch in einem einzigen Betrieb ausüben zu können, ist verloren gegangen. Mit Abschluss einer Ausbildung haben die Jugendlichen keinesfalls "ausgelernt", vielmehr stellt die Erstausbildung ein Zwischenziel für weiteren beruflichen Kompetenzerwerb und dauerhaftes, lebensbegleitendes Lernen dar. Diese Entwicklungen bedeuten neue Herausforderungen, aber auch neue Chancen für die Jugendlichen. Die Bürde, sich für einen "Lebensberuf" entscheiden zu müssen, entfällt. Vielmehr wird die Ausbildungswahl zu einer ersten Stufe der Berufsbiographie, die eine Basis für die weitere Berufs- und Lebensplanung darstellt.

Angesichts der beschriebenen Umbrüche auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ist die Berufsorientierung Jugendlicher zu einer entscheidenden Aufgabe für die Gesellschaft geworden. Der Bedeutungsverlust traditioneller Arbeits- und Berufsmuster und die Ausprägung neuer Kompetenzprofile machen eine neue Form der Berufs- und Lebenswegplanung erforderlich. Eine moderne Berufsorientierung kann sich nicht damit begnügen, die Jugendlichen zu informieren, sondern muss den Schülerinnen und Schülern umfangreiche Hilfe bei der Selbstfindung und Informationsverarbeitung bieten. Sie muss zudem dem Umstand Rechnung tragen, dass für die Jugendlichen die Berufsfindung an der ersten Stufe weniger ein rationaler, als vielmehr ein emotionaler Prozess der Berufs- und Lebensplanung ist, bei dem es für die Jugendlichen zugleich um die Vergewisserung der eigenen Wertvorstellungen geht.

Daraus ergibt sich ein neues Verständnis von Berufsorientierung. Die Jugendlichen zu befähigen, ihre Lebensplanung selbst zu gestalten und sich die Möglichkeiten der Berufswahl bewusst zu machen, ist von zentraler Bedeutung. Der Heranführung an lebensbegleitendes Lernen und damit der Entwicklung der Fähigkeit und Bereitschaft, die einmal erworbenen Kompetenzen und Fertigkeiten stetig weiterzuentwickeln, kommt so eine immer stärkere Rolle zu. Dies impliziert das Ziel, ein hohes Maß an Selbstständigkeit und Eigenverantwortung bei den Jugendlichen zu erreichen. Neben der Vermittlung von fachlichen und sachlichen Inhalten erlangt deshalb die Förderung von Lernmotivation sowie die Befähigung, sich in neuen Situationen zurechtzufinden und erworbene Kenntnisse in anderen Zusammenhängen umzusetzen, besondere Bedeutung.

Dabei wird mehr und mehr erkannt, dass die Aneignung dieser Kompetenzen aber nicht erst in der Berufsausbildung stattfinden kann. Die selbstständige Auseinandersetzung mit Fragen der Berufsorientierung und damit im Zusammenhang stehend mit Themen der Wirtschafts- und Arbeitswelt sollte schon in der Schule statt finden. Von erheblicher Bedeutung sind in diesem Zusammenhang der Einsatz von neuen Lern- und Lehrformen sowie veränderte schulische Rahmenbedingungen und Curricula, die den selbstständigen Wissens- und Erfahrungserwerb begünstigen und die Eigenständigkeit der Jugendlichen fördern.

Diese Aufgaben können Schule, Eltern und Betriebe allein nicht meistern, sie bedeuten vielmehr neue Herausforderungen an das Beschäftigungssystem, an die Bildungspolitik und an ein gelungenes Zusammenspiel aller (aus-) bildungspolitischen Akteure. Die Aneignung dieser Art Ausbildungsfähigkeit, zur der das Entwerfen eines eigenen Zukunftskonzeptes ebenso gehört wie das Wissen um die eigenen Fähigkeiten und Interessen sowie die neuen betrieblichen Qualifikationserfordernisse, macht eine stärkere Kooperation zwischen Schule und Wirtschaft erforderlich. Durch sie werden nicht nur vorhandene Vorurteile auf beiden Seiten abgebaut, sondern auch das gegenseitige Verständnis und die Wertschätzung der Arbeit der anderen Seite gefördert. Die Verzahnung von Schule und Betrieb und die Flexibilisierung des Übergangs erleichtern Jugendlichen den Weg in das Arbeitsleben.

Mit dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Europäischen Sozialfonds geförderten Programm "Schule - Wirtschaft/ Arbeitsleben" (SWA) wirken der Bund, die Länder sowie die Sozialpartner gemeinsam innovativ und strukturbildend auf die Herausforderungen an eine moderne Berufsorientierung und suchen neue Wege zur Stärkung der Ausbildungs- und Arbeitsfähigkeit von Jugendlichen. Insgesamt wurden bislang 36 Projekte in ganz Deutschland gefördert (Stand April 2003). Diese Projekte zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie auf Kooperationen angelegt sind: Schulen und Hochschulen kooperieren mit Betrieben und Ausbildungsstätten in der Wirtschaft, den Gewerkschaften und weiteren Institutionen der Jugend- und Bildungsarbeit. Dabei zeigen sich trotz differierender Akzente und Tätigkeitsfelder Gemeinsamkeiten und Schnittmengen, die ein gemeinsames Handeln ermöglichen.

Eine enge Kooperation erfordert jedoch die fundierte gegenseitige Kenntnis der beteiligten Akteure bezüglich ihrer Einschätzungen, Schwerpunktsetzungen und Lösungsvorschläge im Hinblick auf die gewandelten Anforderungen an Berufsorientierung. Eine Verständigung der verantwortlichen bildungspolitischen Akteure über neue Wege in der Berufsorientierung ist deshalb ebenso notwendig wie eine vertiefte Kenntnis über die gravierenden Entwicklungen im Bildungs- und Beschäftigungsbereich. Als ersten Schritt in diese Richtung hat die zentrale wissenschaftliche Begleitung des Programms "Schule - Wirtschaft/ Arbeitsleben" deshalb zwei Reader zum Thema Berufsorientierung zusammengestellt. Reader I hat Grundlagentexte der Berufsorientierung zum Gegenstand, Reader II enthält Stellungnahmen und Beiträge von Akteuren, die an der konzeptionellen bzw. praktischen Arbeit zur Verbesserung der Berufsorientierung entscheidend mitwirken.