Gibt es ein Recht auf Verschmutzung? Eine Unterrichtsreihe zum Dilemma Ökologie vs. Gerechtigkeit

Andreas Dietz

Inhalt

1. Wertefragen in der politischen Bildung
2. Ökologie vs. Gerechtigkeit: das Dilemma
3. Konzeption der Unterrichtsreihe als Konfliktanalyse
4. Literatur

Abbildungen:

Abb. 1: Moralisches Urteilen nach Kohlberg
Abb. 2: Phasen, Arbeitsschritte und Materialien der Unterrichtsreihe

1. Wertefragen in der politischen Bildung

Haben arme Staaten das Recht auf ungebremsten Ausstoß von Treibhausgasen, damit sie durch ökonomische Entwicklung die Armut der Menschen linden können? Diese Frage stellt die internationale Gemeinschaft auf jeder UN-Klimakonferenz erneut vor ein Dilemma. Dass es dabei um Werte geht, ist offensichtlich: Der langfristige Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen auf unserem Planeten steht dem Recht des Menschen auf angemessene Lebensbedingungen in vielen Teilen der Welt entgegen. Beide Anliegen sind von hoher moralischer Natur. Sie verkörpern universalisierungsfähige Werte und stiften bei vielen Jugendlichen Identifikation. Zugleich handelt es sich um eine Problematik, die die Menschheit - und somit auch eine verantwortliche politische Bildung - noch über viele Generationen hinweg beschäftigen wird.

Fachdidaktische Wege, solche Wertefragen für den Politikunterricht nutzbar zu machen, hat Sibylle Reinhardt vorgeschlagen (Reinhardt 1999: 47 ff). Einer dieser Wege setzt bei einem moralischen Dilemma an, das den Streit um Werte provoziert und zur konflikthaften Auseinandersetzung führt. Der politische und rechtliche Rahmen des Handelns, Institutionen und Regelungsmechanismen sind neben den dilemma-spezifischen Sachzusammenhängen ebenso Lernziele wie die Entwicklung moralischen Bewusstseins. Den Theoriebezug zum moralisch-politischen Dilemma im Unterricht stellt Sibylle Reinhardt über Lawrence Kohlbergs Stufenmodell zur Entwicklung der Struktur moralischen Urteilens her (vgl. Kohlberg 1974). Diese von Kohlberg beschriebene Entwicklung kann man zusammenfassen als eine Entwicklung von Außen- zu Innenlenkung, vom Konkreten zum Abstrakten, von Straforientierung über Verinnerlichung zu moralischer Autonomie, von Egozentrismus über Konventionsabhängigkeit hin zu einer umgreifenden sozialen Perspektive. An der knappen Zusammenfassung lässt sich eine elementare Begründung für die Relevanz von Werten und moralischen Urteilens im Politikunterricht festmachen. Damit das Zusammenleben von Menschen in einer großen und komplexen Gesellschaft, ja: in einer globalen Weltgesellschaft, funktionieren kann, bedarf es einer ausreichenden Anzahl von Individuen, die in der Lage sind, deren Heterogenität und Ausdifferenzierung zu erkennen und anzuerkennen. Die umgreifende soziale Perspektive des einzelnen ist gerade dann anzustreben, wenn - wie seit vielen Jahren zu beobachten -Trends wie Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung auf Probleme von Desintegration und Entsolidarisierung verweisen (Reinhardt[/S.96:] 2000: 288-289). Die Förderung der individuellen Entwicklung moralischen Urteilens kann unter Berücksichtigung dieser Prämisse ein Teilziel des Politikunterrichts sein. Moralische Bildung als Element der politischen Bildung ist dann legitim. In diesem Beitrag soll der Ansatz von Kohlberg helfen, eine Auseinandersetzung um Werte im Bereich der internationalen Beziehungen aufzugreifen und für den Unterricht in Form eines Dilemmas fruchtbar zu machen.

Es ist unmöglich, einem Dilemma auszuweichen. Das Ändern von Tatsachen darf ebenso wenig erlaubt sein, wie das Delegieren der Entscheidung und der damit verbundenen individuellen Verantwortlichkeit an Dritte. Ist die Entscheidung zugunsten des einen Wertes einmal gefallen, wurde damit unweigerlich der andere Wert verletzt. Die Entscheidung muss also begründet werden. Dies zwingt wiederum zur Auseinandersetzung mit den konfligierenden Werten und weist auf den elementaren Kern von Politik: den Konflikt. In der vorliegenden Unterrichtsreihe ist das Dilemma zwar keine Frage der individuellen Entscheidung, aber durch den hoch wertgeladenen Charakter des politischen Problems, das in seiner Zuspitzung zum Konflikt die Handlungsebene von kollektiven Akteuren betrifft, entsteht eine Dilemma-Situation, die von Individuen beurteilt werden muss. Letztendlich betrifft die Entscheidung die Rahmenbedingungen menschlichen Zusammenlebens und Überlebens. Damit ist das politische Problem für den einzelnen relevant.

Die vorgeschlagene Unterrichtsreihe wurde für das Lernfeld der internationalen Beziehungen konzipiert. Das Lernfeld hat im vergangenen Jahrzehnt an Bedeutung gewonnen. Dieser Zuwachs resultiert aus dem zunehmenden Einfluss globaler Verflechtungen und medial vermittelter Ereignisse auf die Bewusstseinsbildung junger Menschen. Michael May hat die These vertreten, dass insbesondere durch den Prozess der Globalisierung eine neuartige Wertebildung dringlich wird (May 1999a: 42) und mit seiner Unterrichtsreihe zum Kosovo einen praktikablen Vorschlag geliefert (vgl. May 1999b). Doch zunächst hilft es, aus der Fülle der Definitionen und Erklärungen zum Globalisierungsbegriff das wesentliche Charakteristikum herauszufiltern: "Im Kern beziehen sich alle wissenschaftlichen Definitionen von Globalisierung auf die Intensivierung von Beziehungen zwischen globalen und lokalen Prozessen, auf die alltägliche Erfahrung also, dass globale Veränderungen sich auch in lokalen Entwicklungen niederschlagen." (Müller-Mahn 2002: 4) Wenn Globalisierung so verstanden wird, muss auch eingeräumt werden, dass national bzw. lokal orientierte Identitäten in Schwierigkeiten geraten. Die Integration der Gesellschaft wird also nicht nur durch zunehmende innere Differenzierung (Individualisierung, Pluralisierung) gefährdet, sondern auch durch die Konfrontation mit Interessen und Besonderheiten anderer Gruppen, Nationen und Kulturen. Diese Konfrontation wird zum übergroßen Teil medial vermittelt. Problemfelder wie Armut, Menschenrechte, militärische Auseinandersetzungen, Klimawandel und Umweltzerstörung rücken damit - wenn auch immer nur zeitweise - ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Verinnerlichte Wertüberzeugungen werden herausgefordert. Gleichzeitig wird deutlich, dass sich viele Probleme nur noch durch transnationale Kooperation lösen lassen und wegen der Vielzahl der Akteure Kompromisse nötig werden, die ihrerseits vermeintlich universale Werte in Frage stellen. Der problematisierte Geltungsanspruch z.B. der Universalität von Menschenrechten zwingt das Individuum zur inneren wie diskursiven Auseinandersetzung um Werte, die im Politikunterricht aufgegriffen und gefördert werden kann. Dabei geht es nicht um die Relativierung von Werten, sondern um die Erkenntnis, dass in einer globalen Weltgesellschaft verschiedene Werte mit ähnlichen Geltungsansprüchen konfligieren und Gegenstand von politischen Aushandlungsprozessen sind.[/S.97:]

2. Ökologie vs. Gerechtigkeit: das Dilemma

Im Zentrum der Auseinandersetzungen um die Einwirkungen des Menschen auf das Klima stehen die so genannten Spurengase der Atmosphäre: Wasserdampf, Kohlendioxid, Ozon, Distickstoffoxid und Methan. Im Gegensatz zu Stickstoff (78%) und Sauerstoff (21%) machen die Spurengase zusammen nur etwa 3 Promille der Masse der Atmosphäre aus. Trotzdem beeinflussen sie das Klima, weil sie die Eigenschaft besitzen, Sonnenstrahlung bis zur Erdoberfläche gelangen zu lassen und die von der Erde zurückkommende Strahlung, die langweilige Wärmestrahlung, zum Teil zurückzuhalten. Dadurch wird die Atmosphäre erwärmt (vgl. z.B. 1995: 222). Dieser natürliche Treibhauseffekt sorgt für die lebensnotwendigen Temperaturen auf der Erde. Die Durchschnittstemperatur liegt bei 15°C. Jede Veränderung im Anteil der Spurengase wirkt sich auf den Treibhauseffekt und das Klima auf der Erde aus. Seit Beginn der Industrialisierung nahm die Konzentration an Kohlendioxid, Methan und den anderen Spurengasen zu. Der Treibhauseffekt wurde verstärkt. Wichtigste Ursache ist die Verbrennung fossiler Energieträger, wobei der größte Teil des Kohlenstoffdioxids durch Kraftwerke, Heizungsanlagen und Kraftfahrzeuge freigesetzt wird. Auch das Verschwinden der tropischen Regenwälder, die mit ihrer enormen Biomasse das Kohlendioxid aus der Atmosphäre binden, ist auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen. Bei sich weiter verstärkendem anthropogenen Treibhauseffekt ist mit einem Anstieg der globalen Mitteltemperatur um bis zu 4°C zu rechnen (ebd.). Die Auswirkungen dieser Entwicklung sind von ungeahntem Ausmaß: Rückgang der Gebirgsgletscher und großen Eisschilde, Meeresspiegelanstieg und Gefährdung der Küstenregionen (Verschwinden kleiner Inselstaaten im Pazifik), Verschiebung von Klima- und Vegetationszonen und Zunahme der Desertifikation (Vordringen der Wüsten), Änderung der Niederschlagsverteilung und Zunahme der Häufigkeit und Intensität von Extremwetterereignissen (Stürme und Überschwemmungen), schließlich das Versiegen des warmen Golfstroms, der Europa gemäßigte Temperaturen ermöglicht. So offensichtlich der Zusammenhang zwischen der Erwärmung der Erdatmosphäre und den menschlichen Aktivitäten auch ist, so muss doch eingeräumt werden, dass der Mensch das Klima nicht allein beeinflusst. Zieht man paläoklimatologische Analysen hinzu (vgl. z.B. Schönwiese 1995: 65-117), wird deutlich, dass es in der Klimageschichte der Erde immer beträchtliche Schwankungen (Kalt- und Warmzeiten) gegeben hat. Der anthropogene Einfluss muss als zusätzlicher, verstärkender Faktor gesehen werden.

Die Lage wird seit geraumer Zeit als sehr ernst eingeschätzt, nicht zuletzt auch deshalb, weil erste Folgen der Klimaveränderung schon eingetreten sind. Eine ganze Reihe von internationalen Konferenzen haben sich mit der Thematik befasst. So wurde 1992 in Rio eine Klimarahmenkonvention als erste völkerrechtlich verbindliche Grundlage für den Klimaschutz unterzeichnet. Ziel der Konvention ist eine Stabilisierung der Treibhausgas-Konzentrationen in der Atmosphäre, um den Klimawandel nicht noch weiter zu forcieren. Die Umsetzung der Konvention ist gerade für Entwicklungs- und Schwellenländer keine leichte Aufgabe. Von noch größerer Bedeutung ist das 1997 ausgehandelte Kyoto-Protokoll (vgl. Müller 2003). Es legt die für Industrieländer verbindliche Reduzierung ihrer Treibhausgas-Emissionen fest. Damit das Kyoto-Protokoll Inkrafttreten kann, müssen es 55 Länder ratifizieren und gleichzeitig müssen diese Länder 55% der Emissionen der industrialisierten Welt repräsentieren. Derzeit haben 120 Länder - darunter die EU-Staaten, Brasilien und China - das Protokoll ratifiziert. Sie verursachen zusammen 44,2% der Emissionen (UNO-Rahmenkonvention über Klimawandel: Kyoto-Protokoll-Statistik, 26.11.2003). Die Vereinigten Staaten haben sich 2001 aus dem Protokoll zurückgezo[/S.98:]gen. Damit nun trotzdem die 55%-Hürde genommen werden kann, muss zumindest Russland noch den Vertrag ratifizieren; die Anzeichen aus Moskau sind allerdings widersprüchlich. Seit 1997 laufen die Verhandlungen zu den Details und den Regeln der Umsetzung des Protokolls. So sollte ein eigener Fonds für Entwicklungsländer eingerichtet werden, der ihnen bei der Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels, beim Erwerb umweltschonender Technologien und der Begrenzung ihres eigenen Treibhausgasausstoßes helfen soll. In Bonn (2001) einigte man sich darauf, dass Wiederaufforstungs- und Forstwirtschaftsmaßnahmen, landwirtschaftliche Anbauflächen und Weideland als Kohlendioxidsenke anrechenbar sein sollen. Industriestaaten sollen außerdem die Möglichkeit haben, in klimafreundliche Projekte in den Entwicklungsländern zu investieren und dafür Gutschriften für die Vermeidung von Treibhausgasemissionen zu erhalten. Weitere Regeln befassen sich mit dem internationalen Emissionshandel, der den Industriestaaten erlaubt, Emissionsgutschriften untereinander zu kaufen und zu verkaufen. Im Marrakesch (2001) wurden die Verhandlungen zu Fragen der Flexibilitätsmechanismen und der Einhaltungskontrolle fortgeführt. In Delhi (2002) schließlich kam es trotz Fortschritten im Detail zum Streit um die rasant steigenden Emissionen in Schwellenländern (Diefenbacher 2003: 368-370).

Der zweite zentrale Sachzusammenhang ist nicht weniger komplex: das Problem der Unter- bzw. Fehlentwicklung vieler Staaten der so genannten Dritten Welt. Von allen Problemen, die dabei zumeist parallel und eng miteinander verknüpft diskutiert werden müssen (Armut, Hunger, Krankheiten, Wasserversorgung, Schulbildung, Bevölkerungswachstum, AIDS), ist die fehlende Ernährungssicherheit zentral. Die Anfälligkeit vieler Länder für Hungersnöte und die daraus resultierenden Krisen machen das Problem der Unterentwicklung immer wieder bewusst. Bereits heute hungern weltweit mehr als 800 Millionen Menschen (Leisinger 1999: 178 ff.) und sterben täglich 19.000 Kinder direkt oder indirekt an den Folgen mangelhafter Ernährung und unsauberen Wassers. Und die Weltbevölkerung wird in den nächsten 50 Jahren noch einmal um weitere drei bis viereinhalb Milliarden Menschen zunehmen; die Ressourcen zu ihrer Ernährung jedoch schwinden. In der Unterrichtsreihe wird das Beispiel Indien ins Blickfeld genommen. Allein in diesem Land lebten 1990 ein gutes Drittel der weltweit Armen. Neben Schwarzafrika ist Indien damit die Hauptarmutsregion der Welt. 287 Millionen Inderinnen und Inder leben in absoluter Armut - 25% der Gesamtbevölkerung des Landes (Bundeszentrale für politische Bildung 1997: 17).

Die internationale Gemeinschaft hat sich des globalen Problems um Unterentwicklung schon seit Jahrzehnten angenommen. Doch wie dieses und andere gelöst werden sollen, ist eine offene Frage. Allen Bemühungen zum Trotz sind viele Entwicklungsländer immer tiefer in die Misere gerutscht. Wirklich sicher ist lediglich die Einsicht, dass die wirksame Bekämpfung von Armut und Hunger mit einer umfassenden Demokratisierung und mit wirtschaftlicher Entwicklung einhergehen muss. Mit steigendem Wohlstand aber wachsen auch die Ansprüche an den Ressourcenverbrauch und mit dem Aufkommen von verarbeitendem Gewerbe und eines möglichen industriellen Sektors die treibhausrelevanten Emissionen. Was passiert, wenn sich die Milliardenvölker China und Indien dazu entschließen sollten, eine ähnlich geartete individualisierte und motorisierte Mobilität an den Tag zu legen, wie wir es tun?

Hier offenbart sich das Dilemma um das ‚Recht auf Verschmutzung'. Der Streit bricht auf allen umweltbezogenen UN-Konferenzen aufs Neue aus. "Klimaschutzmaßnahmen würden unsere ohnehin schwachen Volkswirtschaften noch stärker belasten und damit verhindern, dass wir höheres Wirtschaftswachstum erreichen, um die Armut zu bekämpfen", so der indische Premierminister Atal Behari Vajpayee auf einer Klimakon[/S.99:]ferenz in Delhi (taz 01.11.2002). Der Süden fordert genau das, was der Norden seit der Industrialisierung praktiziert: Wachstum auf Kosten der Umwelt und somit das Recht auf ungebremsten Ausstoß von Kohlendioxid. Das angeführte humanitäre Ziel, die Bekämpfung von Armut, ist dabei universeller Natur. Die Gegenseite beruft sich auf die Zukunft der Lebensgrundlagen der gesamten Menschheit und appelliert ebenfalls an übergeordnete Prinzipien. Doch auch andere Begründungen sind denkbar und nicht ganz von der Hand zu weisen. Die folgende Auflistung von Argumenten orientiert sich an Kohlbergs Stufenmodell moralischen Urteilens und könnte ansatzweise auch Elemente einer Diskussion im Unterricht widerspiegeln.

Abb.1 Moralisches Urteilen nach Kohlberg
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Es wird die Frage gestellt werden, ob wir es tatsächlich mit einem echten Dilemma zu tun haben, oder ob es nicht vielleicht doch eine Alternative gäbe, eine Art wert-integrierenden Ansatz. Man mag diese Frage mit Verweis auf das Konzept der Nachhaltigkeit beantworten:
"Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen." (Brundtland-Report 1987) Dass dieses Konzept heute überall bekannt ist, sagt aber noch lange nichts darüber aus, dass es auch umgesetzt wird. Der UN-Nachhaltigkeitsgipfel, der August/September 2002 in Johannesburg (Südafrika) stattfand, brachte nur kleine Erfolge. Die Erklärung ist einfach: Nachhaltigkeit ist ein sehr stark normatives Konzept, das nicht nur den Ländern des Südens einen Handlungsbedarf zuschreibt, sondern auch denen des Nordens. Die Problemannahme ist nicht mehr die Unterentwicklung der Dritten Welt, sondern eine allseitige Fehlentwicklung, der nur mit einem umfassenden ökologischen, ökonomischen und sozialen Umbau im Süden wie im Norden zu begegnen ist.[/S.100:]

In die Debatte um Nachhaltigkeit und Entwicklung wurden durch Wolfgang Sachs und andere Lösungskonzepte eingebracht, die unter den Stichworten Effizienz und Suffizienz firmieren (Sachs 2002: 83-84). So könne durch effizientes Wirtschaften ein Zuwachs an Wohlstand bei gleichzeitigem Rückgang des Ressourcenverbrauchs erreicht werden. Doch Effizienz allein reicht nicht aus. Technologische Spareffekte werden auf Dauer unweigerlich von Mengeneffekten kompensiert. Deshalb fordert Sachs parallel zur "Effizienzrevolution" auch eine "Suffizienzrevolution". Unter Suffizienz verstehen wir ein Zurückschrauben unserer Ansprüche vor allem an die materielle Ausstattung unseres Lebens sowie an unsere Mobilität, ein Zurückschrauben also des Ressourcenverbrauchs. Suffizienz heißt demnach nichts anderes als ein Hinterfragen von Lebensstilen, jener Lebensstile, die sich andere Völker in ihrer Entwicklung zum Vorbild nehmen.

Ein gleichzeitiges Anstreben von Naturverträglichkeit und Gerechtigkeit - in unserem Fall von Klimaschutz und Armutsbekämpfung - ist also nicht gänzlich unmöglich. Es setzt allerdings eine Effizienz- und eine Suffizienzrevolution voraus. Erstere ist eine Sache von Technikern und Wissenschaftlern, aber auch von politischen Entscheidungsträgern. Die zweite ist eine Aufgabe aller, der gesamten Gesellschaft und jedes Einzelnen. Es ist eine Frage des Wohlstandes und damit eine Frage von Werten. Jugendliche stehen heute sozialen und umweltbezogenen Fragen durchaus offen gegenüber; vordergründig teilen sie jedoch materielle und auf die eigene Person bezogene Werte (vgl. 14. Shell-Jugendstudie 2002). Das lässt die Alternative Nachhaltigkeit unwahrscheinlich werden. Sie bleibt vorerst eine Wertprämisse, die häufig zitiert wird, ohne tatsächlich handlungsrelevant zu werden.

3. Konzeption der Unterrichtsreihe als Konfliktanalyse

In der Unterrichtsreihe soll der Wertekonflikt, wie er auf einer UN-Konferenz entbrennt, analysiert werden. Dazu eignet sich die Methode der Konfliktanalyse nach Hermann Giesecke. Ein Konflikt wird anhand von Kategorien durchdrungen (Macht, Recht, Interesse usw.), die nach Bedarf gewählt, verändert oder erweitert werden können (Giesecke 1979: 139 ff.). Bei einer solchen Analyse und Beurteilung aller für den Konflikt entscheidenden Fragen wird ein differenzierter Zugang ermöglicht. Zugleich bekommt der Lernende ein Instrumentarium (Kategorien und Phasen) an die Hand, um zukünftig eigenständig Konflikte beurteilen zu können. Die gewonnenen Informationen sind die beste Entscheidungsgrundlage - auch bei moralischen Urteilen. Zur hier vorgeschlagenen Konfliktanalyse gehören individuelle Stellungnahmen und ein Kontroversverfahren. Die Kontroverse ermöglicht den Wertekonflikt. So wird moralisch-politisches Urteilen im Kommunikationszusammenhang der ganzen Klasse möglich.

Die Unterrichtsreihe beginnt in der Konfrontation mit dem Dilemma und ersten Stellungnahmen (Phase 1). Die Konfliktanalyse anhand von Kategorien (Phase II) schließt sich direkt daran an. Es folgen das Kontroversverfahren (Phase III) und die Suche nach Lösungsansätzen (Phase IV). Die Reihe endet schließlich mit einer Systematisierung und Reflexion (Phase V). Die einzelnen Arbeitsschritte und die Verweise auf die Materialien sind in der folgenden Tabelle übersichtlich dargestellt. Zudem unterbreite ich einen Vorschlag, wie sich die Phasen der Reihe in Unterrichtsstunden gliedern lassen. Hier ist Flexibilität gefragt. Wichtig sind nicht die abgeschlossenen 45-Minuten-Zeiteinheiten, sondern die Unterrichtsphasen. Weitere Erläuterungen zu den einzelnen Phasen finden sich auf den Folgeseiten nach der Tabelle. Die Materialien der Unter[/S.101:]richtsreihe können im "Didaktischen Koffer" des Zentrums für Schulforschung und Fragen der Lehrerbildung in Halle (ZSL) eingesehen, heruntergeladen und ausgedruckt werden: http://www.zsb.uni-halle.de/didaktischer-koffer/

Die Konfrontation mit dem Zeitungsartikel über die Klimakonferenz in Delhi soll an den Konflikt heranführen und den Schülerinnen und Schülern eine erste Stellungnahme ermöglichen. Der Artikel kann als Kopie verteilt werden. Sinnvoll ist eine zusätzliche Folie:
Der Text kann dann gemeinsam gelesen werden. Er enthält nur wenige Informationen, verdeutlicht allerdings das Dilemma und regt zum Nachdenken an. Die Schülerinnen und Schüler werden aufgefordert, sich kurz reihum zu äußern. Die Äußerungen werden noch undifferenziert sein, vielleicht Allgemeinplätze belegen oder Emotionen widerspiegeln.

Die Konfliktanalyse soll nun kanalisiert durch Leitfragen mehr Informationen erbringen. Vor einer Positionierung ist es unerlässlich, sich ausgiebig in die relevanten Sachzusammenhänge und die Hintergründe der Interaktionen hineinzudenken. Aufgrund der Komplexität ist ein arbeitsteiliges Vorgehen empfehlenswert, das gleichzeitig kooperatives Lernen in Gruppen ermöglicht. Jede Gruppe erhält eine Auswahl an Fragen und zusätzlich zu Ml auch die Materialien M2-M5. Weitere Informationen können selbstständig recherchiert werden. Für die Gruppenarbeit sollte ausreichend Zeit eingeplant werden. Sie kann auch unterbrochen und in der Folgestunde fortgesetzt werden. Wichtig ist, den Präsentationen und den anschließenden zweiten Stellungnahmen genügend Raum zu geben. Es wird sich herausstellen, dass die Schülerinnen und Schüler nach der Konfliktanalyse zu fundierteren Äußerungen in der Lage sind, die sie auch begründen können und sollen. Möglicherweise hat sich ihre Meinung im Vergleich zum Beginn gewandelt.[/S.102:]

Abb. 2 Phasen, Arbeitsschritte und Materialien der Unterrichtsreihe
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[/S.103:]Das Kontroversverfahren, das sich als dritte Phase der Reihe anschließt, soll den Wertekonflikt in eine strittige Diskussion münden lassen. Die Schülerinnen und Schüler sind nun gezwungen, ihre Positionen gegen Kritik zu verteidigen und mit schlüssigen Argumenten zu begründen. Hierfür eignet sich die Pro- / Contra-Diskussion, bei der die Klasse - moderiert durch den Lehrer - in einen Diskurs verwickelt wird. Die eingehende Frage könnte z.B. lauten: Soll sich Indien auf Wirtschaftswachstum oder auf Klimaschutz konzentrieren? Dabei können auch Verfechter des Klimaschutzes angeregt werden, über Argumente für Wirtschaftswachstum nachzudenken und vice versa. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es sich um eine Dilemmadiskussion handelt: Es werden moralische Urteile gefällt, entkräftet, erwidert und bestätigt. Abschließend muss dann aber die Entscheidung gefällt werden. Hier hat sich jeder individuell festzulegen. Das Gesamtergebnis ist mit einer demokratischen Entscheidung nach einem intensiv geführten Meinungsbildungsprozess gleichzusetzen. Die von den Schülerinnen und Schülern vorgebrachten Argumente werden durch den Lehrer auf einer Folie protokolliert und im Anschluss gemeinsam ausgewertet. Die oben aufgelisteten möglichen Argumente zur Vorgehensweise Indiens können einen gewissen Aufschluss über die möglichen Ergebnisse liefern. Was ist der Wertekonflikt? Mit der weiteren Frage, welche grundsätzlichen Probleme dem Konflikt zugrunde liegen, wird der konkrete Sachzusammenhang verlassen und eine andere, abstraktere Ebene angesprochen. Diese Generalisierung ordnet den konkreten Fall in eine lange Reihe von Problemen übergeordneter Natur ein. Beispielsweise könnte die Frage aufgeworfen werden, warum Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse im internationalen Rahmen ein so schwieriges Unterfangen sind.

Lösungsansätze zu finden, die in der Dilemmadiskussion keinen Platz gefunden haben, ist die logische Weiterführung der Überlegungen. Schließlich müssen Regelungen gefunden werden, die globalen Menschheitsprobleme zu bearbeiten. Weder die Entscheidung für Klimaschutz, noch die für Wirtschaftswachstum und Armutsbekämpfung, ist befriedigend, weil sie entsprechend der Natur eines Dilemmas den anderen Wert verletzt. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich nun mit dem Konzept der Nachhaltigkeit beschäftigen, das helfen könnte, die beiden Werte zu integrieren. Die gefundenen Ansätze werden schließlich auf ihre Realisierungsmöglichkeiten hin untersucht. Dabei muss deutlich werden, dass Nachhaltigkeit nur auf Grundlage von Wertprämissen funktionieren kann. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich hier also erneut mit Werten auseinander, die sie nun aber auf sich und ihren eigenen Lebensstil beziehen müssen. Denn in einer globalisierten Welt sind alle Aktivitäten miteinander verknüpft: So, wie sich globale Prozesse vor Ort auswirken, wirkt sich individuelles Handeln global aus. Die Werte Gerechtigkeit und Ökologie einerseits können also tatsächlich nur dann gleichermaßen als Zielprämisse dienen, wenn sich andererseits konkretes Handeln vor Ort am Ideal der Nachhaltigkeit orientiert.

Die letzte Phase dient schließlich der Strukturierung angesprochener Aspekte und der Reflexion der Unterrichtsreihe. Hier wird für alle deutlich, ob und wie die Bearbeitung des politischen und moralischen Konfliktes für die eigene Beurteilung der Lage dienlich gewesen ist: inhaltlich, methodisch und in Bezug auf die Auseinandersetzung mit Werten. Für den Lehrer ist diese Phase genauso bedeutend wie für die Schülerinnen und Schüler.[/S.104:]

4. Literatur

Bundeszentrale für politische Bildung, Hg. (1997): Informationen zur politischen Bildung. Indien. Nr. 257/1997.

Deutsche Shell, Hg. (2002): Jugend 2002: zwischen pragmatischem Idealismus und robustem Materialismus. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag.

Diefenbacher, Hans (2003): Klimaschutz - Blockaden in Neu-Delhi. In: Blätter für deutsche und Internationale Politik. Heft 3/2003, 368-370.

Giesecke, Hermann (1979): Didaktik der politischen Bildung. 11. Auflage. München: Juventa.

Kohlberg, Lawrence (1974): Zur kognitiven Entwicklung des Kindes. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Lauer, Wilhelm (1995): Klimatologie. Braunschweig: Westermann.

Leisinger, Klaus M. (1999): Die sechste Milliarde. Weltbevölkerung und nachhaltige Entwicklung. München: Beck.

May, Michael (1999a): Vom Nutzen der Wertebildung für das Lernfeld der internationalen Beziehungen - Unterrichtsbeispiel Kosovo. In: Politik unterrichten, Heft 2/1999, 42-51.

May, Michael (1999b): Intervention aus Humanität? Moralisch-politische Urteilsbildung am Beispiel des Kosovo. In: Gegenwartskunde 1/1999, 85-97.

Müller, Markus M. (2003): Umweltpolitik durch Handel mit Verschmutzungsrechten. Neue Wege in der Politik durch supranationale Anstöße. In: Gesellschaft - Wirtschaft - Politik 4/2003, 431-440.

Müller-Mahn, Detlef (2002): Globalisierung: Definitionen und Fragestellungen. In: Geographische Rundschau, Heft 10/2002, 4-7.

Reinhardt, Sibylle (1999): Werte-Bildung und Politische Bildung. Zur Reflexivität von Lernprozessen. Opladen: Leske + Budrich.

Reinhardt, Sibylle (2000): Bildung zur Solidarität. In: Breit, Gotthard; Schiele, Siegfried. Hg. Werte in der politischen Bildung. Schwalbach: Wochenschau Verlag, 288-289.

Sachs, Wolfgang (2002): Nach uns die Zukunft. Der globale Konflikt um Gerechtigkeit und Ökologie. Frankfurt am Main: Brandes & Aspel.

Schönwiese, Christian (1995): Klimaänderungen. Daten, Analysen, Prognosen. Berlin, Heidelberg: Springer.

Tageszeitung (taz): Arme fordern Recht auf Verschmutzung. Berlin 01.11.2002.

UNO-Rahmenkonvention über Klimawandel: Kyoto-Protokoll-Statistik. (http://unfccc.intlresource/kpthermo.html) (download 17.12.2003).

World Commission on Environment and Development (1987): Our Common Future (der so genannte Brundtland-Report). Zitiert in: Aachener Stiftung Kathy Beys: http://www.nachhaltigkeit.info (download 17.07.2003).

Dieser Text ist unter gleichem Titel erschienen in: Gesellschaft - Wirtschaft - Politik, Heft 1/2004, S. 95-104.
© 2004 Andreas Dietz, © 2007 sowi-online e.V., Bielefeld
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