Was denken SchülerInnen über Rechtsextremismus? Eine explorative Studie zur Erhebung von Präkonzepten und Entwicklung nachhaltiger Bildung

Autorin: Kim Isabella Hoyer

Betreuung: Karsten Riß

Ausgangspunkt und Fragestellung

Das Themengebiet des Rechtsextremismus wurde und wird nach wie vor als ein Problem am Rande der Gesellschaft wahrgenommen.1 Diverse Untersuchungen, wie etwa die Mitte-Studie der Otto-Brenner-Stiftung aus dem Jahr 2016 zeigen, dass sich angesichts der Flüchtlingskrise bisher festgestellte Vorurteile und Ressentiments in Hass mit der Ausübung von Gewalt wandeln.2

Seit der Etablierung eines jugendlichen Rechtsextremismus wendete die Wissenschaft ihr Augenmerk auf die Erforschung rechtsextremer Einstellungen von Jugendlichen.3 Wenn es darum geht Präventionsarbeit zu leisten, sehen Albert Scherr und auch Sebastian Fischer4 den Blick auf bereits rechtsextrem agierende Jugendliche als weniger sinnvoll an.5 Die Didaktik der Politischen Bildung hingegen muss sich auf eine grundsätzlichere Ebene begeben, um gegen die Entwicklung rechtsextremer Einstellungen präventiv arbeiten zu können.6 „In der Politischen Bildung erweitern und erneuern sich die Inhalte und Strukturen der subjektiven Vorstellungen über Politik und Gesellschaft. Die Politische Bildung muss deshalb stärker danach fragen, wie Lernende Politik denken und für sich selbst sinnhaft machen.“7

Im Mittelpunkt des Projektes steht anders als bei bisherigen Forschungsarbeiten zum Thema „Jugend und Rechtsextremismus“, nicht Jugendliche des Rechtsextremismus zu „überführen“ oder zu prüfen, wie rechtsextrem eine Realschule in NRW ist, sondern sie „als Beobachter des Phänomens Rechtsextremismus“8 zu befragen.

Theoretischer Rahmen

Die Untersuchung von Präkonzepten ist keine grundlegend neue Praxis der didaktischen Forschung. Vor allem die Didaktik der Naturwissenschaften, darunter die Fächer Biologie, Chemie und Physik bieten zahlreiche Forschungsprojekte zur Erfassung jugendlicher Vorstellungen.9 Das Modell der Didaktischen Rekonstruktion, welches aus drei Ebenen besteht, gilt dabei als Forschungsrahmen für die Erhebung von Schülervorstellungen. Bestehend aus fachlicher Klärung, der Erfassung von Schülervorstellungen und didaktischer Strukturierung werden Unterrichtsgegenstände ermittelt, die Möglichkeiten für guten Unterricht bieten.10 Im Rahmen der Kompetenzorientierung und der Entwicklung neuer Kernlehrpläne, wandelte sich das Ziel der Politischen Bildung allmählich von einer Inputorientierung mit Fokus auf der Wiedergabe fachwissenschaftlicher Aspekte in dezidierter Form, hin zu einer Outputorientierung, die ihre Adressaten und deren Lernprozesse verstärkt in den Blickwinkel nimmt.11 Oder eine ähnliche Formulierung: „Die fachliche Logik der Wissenschaften wird als Referenzpunkt gewählt und verdeckt dabei allzu leicht die fachliche Logik der Lernenden.“12 Es genügt nicht mehr, fachwissenschaftliche Aussagen reduziert und unreflektiert in den Unterricht zu übertragen, ohne die Lernerperspektiven zu betrachten. Neben der interpretativen Unterrichtsforschung, die „Prozesse des Lehrens und Lernens im alltäglichen Politikunterricht in den Blick“13 nimmt, entwickelte sich ein weiterer Forschungsbereich der Erfassung subjektiver Lernvoraussetzungen von Schülern.14

Methode

Das gewählte Forschungsthema wurde mithilfe eines Kombinationsverfahrens aus thematischer Zeichnung und qualitativem Fragebogen durchgeführt, anlehnend an Sebastian Fischer.15 Die Untersuchungspopulation bestand aus zwei zehnten Klassen mit insgesamt 43 Schülerinnen und Schülern. Ausgewertet wurden die gewonnenen Ergebnisse mithilfe des Modells der Didaktischen Rekonstruktion16 sowie Erhebungs- und Auswertungsmethoden der Qualitativen Sozialforschung, u.a. wurden mithilfe der Qualitativen Inhaltsanalyse17 Kategorien induktiv entwickelt sowie mit Anlehnung an die Logographie des „Umgangswissen“18 der SchülerInnen voll zu erfassen versucht.

Ergebnisse

Im Vergleich zu wissenschaftlichen Erklärungsansätzen des Rechtsextremismus wurden von den Schülern nur bestimmte Ebenen des „Syndroms Rechtsextremismus“19 angesprochen. Die Mehrheit der 43 Schüler nannte lediglich zwei bis drei Merkmale, die sich mit wissenschaftlichen Beiträgen abgleichen lassen. Der Rechtsextremismus wird in erster Linie über Merkmale, wie „Ausländerfeindlichkeit“, Gewalt und den Nationalsozialismus bestimmt. Für die meisten Schüler besteht eine direkte Verbindung zwischen den drei genannten Merkmalen, ohne die es sich nicht um Rechtsextremismus handelt. Ein Blick auf die Ergebnisse der thematischen Zeichnungen zeigen, dass die Schüler schwerpunktmäßig gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen „Ausländern“ und Rechtsextremen darstellen, die unterdessen durch nationalsozialistische Symbole eine Verbindung zum historischen Nationalsozialismus herstellen. Einige sprechen den parteiförmigen Rechtsextremismus bzw. Rechtspopulismus in Form der AfD oder Pegida an. Eine differenzierte Auseinandersetzung, unter Bezugnahme der Zeichnungen und Fragebögen, zeigt, dass die Mehrheit der Schüler unter „Rechtsextremismus“ den subkulturellen Rechtsextremismus in Form „Baseballschläger schwingender“ Skinheads mit einem hohen Maß an Gewaltbereitschaft verstehen.

Manche Aussagen der Schüler, wie z.B. der Bezug zur heutigen Flüchtlingsthematik lassen zwar darauf hindeuten, dass Rechtsextremismus nicht als ein Phänomen wahrgenommen wird, das sich am Rande der Gesellschaft abspielt. Dem gegenüber steht jedoch die Mehrheit der thematischen Zeichnungen, die sich immer wieder auf den historischen Nationalsozialismus berufen. Ein besonderes Augenmerk verlangt in diesem Zusammenhang, die Zuordnung zu der Kategorie des Nationalsozialismus. Ein erheblicher Teil der Schüler setzt den heutigen Rechtsextremismus mit dem Nationalsozialismus teilweise oder gänzlich gleich. Der historische Nationalsozialismus stellt damit einen deutlichen Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex dar. Es wird davon ausgegangen, dass ein bestimmter Teil der Schüler aufgrund fehlender Begrifflichkeiten auf den Terminus des Nationalsozialismus zurückgreift. Für eine Auseinandersetzung im Unterricht sind diese Vorstellungen von besonderer Bedeutung, da sich der heutige Rechtsextremismus deutlich vom historischen Nationalsozialismus abgrenzt.

Diskussion der Ergebnisse/ Ausblick

Das Verständnis von Schülervorstellungen variiert ebenso stark, wie die Definitionen des Rechtsextremismus. Festzuhalten ist, dass das Phänomen des Rechtsextremismus in direktem Kontrast zu den politischen Leitideen der Demokratie steht und die Erforschung sowie Ausprägung eines reflektierten Bürgerbewusstseins notwendig machen, um die politischen Leitideen in Zukunft gegen Gefahren sichern zu können.

Die Durchführung und Erhebung der individuellen Schülervorstellungen hat gezeigt, mit welchen Vorstellungen Schüler an das Thema Rechtsextremismus herangehen bzw. was sie mit dem Themenkomplex des Rechtsextremismus verbinden. Dennoch bieten die Ergebnisse lediglich Erkenntnisse über die Lernvoraussetzungen der Schüler und nicht, wie auf dieser Grundlage Unterricht entworfen werden soll. Zudem muss geprüft werden, ob durch die Erhebung tatsächlich nachhaltigere Bildungsprozesse entstehen und sich eine Anlehnung an die Forschung des „conceptual change“ feststellen lässt. Hierzu müssten umfangreiche Unterrichtsbeobachtungen sowie Analysen von Unterrichtsplanungen und Arbeitsmaterialien berücksichtigt und untersucht werden. Ebenso von Bedeutung sind die zuvor bestehenden Vorstellungen der jeweiligen Lehrkräfte, die auf dieser Grundlage guten Unterricht planen.

Literatur

  • Butterwegge, Christoph/ Lohmann, Georg: Jugend, Rechtsextremismus und Gewalt. Analysen und Argumente, 2. Auflage, Opladen 2001.
  • Butterwegge, Christoph: Rechtsextremismus, Freiburg/Basel/Wien 2002.
  • Butterwegge, Christoph: Stirbt ‚das deutsche Volk‘ aus? Wie die politische Mitte im Demografie-Diskurs nach rechts rückt. In: Ders. u.a. (Hg.): Themen der Rechten – Themen der Mitte. Zuwanderung, demografischer Wandel und Nationalbewusstsein, Opladen 2002, S. 167-216.
  • Decker, Oliver u.a. (Hg.): Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, Bonn 2010.
  • Decker, Oliver u.a. (Hg.): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Die Leipziger Mitte-Studie 2016, Gießen 2016.
  • Fischer, Sebastian: Ansatzpunkte einer adressatenorientierten Bildung gegen Rechtsextremismus. In: GWP, Heft 2 (2014), S. 201-212.
  • Döring, Nicola/ Bortz, Jürgen: Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften, Berlin 2016.
  • Fischer, Sebastian: Die empirische Untersuchung der Lernvoraussetzungen von SchülerInnen – Möglichkeiten der Adaption sozialpsychologischer Untersuchungsverfahren. In: Pewik, Andreas (Hg.): Formate fachdidaktischer Forschung in der politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2015, S. 125-135.
  • Fischer, Sebastian: Rechtsextremismus – Was denken Schüler darüber? Untersuchung von Schülervorstellungen als Grundlage einer nachhaltigen Bildung, Schwalbach/ Ts 2013.
  • Fischer, Sebastian: Schülervorstellungen über Rechtsextremismus. In: Politik unterrichten, Heft 2 (2008), S. 33-35.
  • Fischer, Sebastian/ Lange, Dirk: Qualitative empirische Forschung zur politischen Bildung. In: Sander, Wolfgang (Hg.): Handbuch politische Bildung, 3. Auflage, Schwalbach/Ts. 2005, S. 90-101.
  • Gropengießer, Harald: Schülervorstellungen zum Sehen. In: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, Heft 1 (1997), S. 71-87.
  • Kattmann, Ulrich u.a.: Das Modell der Didaktischen Rekonstruktion. Ein Rahmen für naturwissenschaftsdidaktische Forschung und Entwicklung. In: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, Heft 3 (1997), S. 3-18.
  • Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung. Methoden und Techniken, Bd. 2, 3. korrigierte Aufl., Weinheim 1995, S. 183-185.
  • Lange, Dirk: Bürgerbewusstsein. Sinnbilder und Sinnbildungen in der Politischen Bildung. In: GWP, Heft 3 (2008), S. 431-439.
  • Laucken, Uwe: Sozialpsychologie. Geschichte – Hauptströmungen – Tendenzen, Oldenburg 1998, S. 279.
  • Lutter, Andreas: Schülervorstellungen. In: Rheinhardt, Volker (Hg.): Forschung und Bildungsbedingungen. Handbuch für den sozialwissenschaftlichen Unterricht, Bd. 4, Hohengehren 2010, S. 74-80.
  • sowi-online Originalbeitrag

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    1. Vgl. Butterwegge, Christoph: Stirbt ‚das deutsche Volk‘ aus?. Wie die politische Mitte im Demografie-Diskurs nach rechts rückt. In: Ders. u.a. (Hg.): Themen der Rechten – Themen der Mitte. Zuwanderung, demografischer Wandel und Nationalbewusstsein, Opladen 2002, S. 167ff. ↩︎

    2. Vgl. Decker, Oliver u.a. (Hg.): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Die Leipziger Mitte-Studie 2016, Gießen 2016, S. 7f. ↩︎

    3. Schaut man in die bisher erschienen Literatur zum Thema „Jugend und Rechtsextremismus“ könnte man leicht der Annahme verfallen, es handele sich lediglich um ein Jugendphänomen. Vgl. Ulvolden, Susanne: Rechtsradikale Jugendliche – nur ein Problem der Jugend? In: Butterwegge, Christoph/ Lohmann, Georg (Hg.): Jugend, 2001, S. 109ff. ↩︎

    4. Sebastian Fischer beschäftigte sich innerhalb seiner Dissertation „Rechtsextremismus – Was denken Schüler darüber?“ und erforschte die Vorstellungen von 100 Schülern eines Dresdner Gymnasiums. Die von Fischer gewonnenen Ergebnisse sind für die vorliegende Arbeit von besonderer Wichtigkeit. Fischer ist zu dem Schluss gekommen, dass sich die Forschung zunehmend auf eine grundsätzliche Ebene von Schülervorstellungen und Denkweisen begeben muss, um der Entwicklung rechtsextremer Orientierungen entgegen wirken zu können. Vgl. Fischer, Sebastian: Ansatzpunkte einer adressatenorientierten Bildung gegen Rechtsextremismus. In: GWP, Heft 2 (2014), S. 201ff. Im Folgenden zitiert als Fischer, Sebastian: Ansatzpunkte gegen Rechtsextremismus, (2014). ↩︎

    5. Vgl. Fischer, Sebastian: Rechtsextremismus, 2013, S. 11ff. ↩︎

    6. Vgl. Fischer, Sebastian: Ansatzpunkte gegen Rechtsextremismus, (2014), S. 201ff. ↩︎

    7. Zit. nach Lange, Dirk: Bürgerbewusstsein, (2008), S. 432. ↩︎

    8. Zit. nach Fischer, Sebastian: Rechtsextremismus, 2013, S. 12. ↩︎

    9. Vgl. Gropengießer, Harald: Schülervorstellungen zum Sehen. In: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, Heft 1 (1997), S. 71-87. ↩︎

    10. Vgl. Kattmann, Ulrich u.a.: Das Modell der Didaktischen Rekonstruktion. Ein Rahmen für naturwissenschaftsdidaktische Forschung und Entwicklung. In: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, Heft 3 (1997), S. 3-4. ↩︎

    11. Vgl. Lutter, Andreas: Schülervorstellungen. In: Reinhardt, Volker (Hg.): Forschung und Bildungsbedingungen. Handbuch für den sozialwissenschaftlichen Unterricht, Bd. 4, Hohengehren 2010, S.74. ↩︎

    12. Zit. nach Lange, Dirk: Bürgerbewusstsein, (2008), S. 432. ↩︎

    13. Vgl. Fischer, Sebastian/ Lange, Dirk: Qualitative empirische Forschung zur politischen Bildung. In: Sander, Wolfgang (Hg.): Handbuch politische Bildung, 3. Auflage, Schwalbach/Ts. 2005, S. 90ff. ↩︎

    14. Vgl. ebd., S. 94 ↩︎

    15. Vgl. Fischer, Sebastian: Rechtsextremismus, 2013. ↩︎

    16. Vgl. Kattmann, Ulrich u.a.: Das Modell der Didaktischen Rekonstruktion. Ein Rahmen für naturwissenschaftsdidaktische Forschung und Entwicklung. In: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, Heft 3 (1997), S. 3-4. ↩︎

    17. Vgl. Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung. Methoden und Techniken, Bd. 2, 3. korrigierte Aufl., Weinheim 1995, S. 183-185. ↩︎

    18. Vgl. Laucken, Uwe: Sozialpsychologie. Geschichte – Hauptströmungen – Tendenzen, Oldenburg 1998, S. 279. ↩︎

    19. Zit. nach Fischer, Sebastian: Rechtsextremismus, 2013, S. 119. ↩︎