Wie aktuell soll sozialwissenschaftlicher Unterricht sein?

Vor allem ein in der Tradition der kategorialen Konfliktdidaktik Gieseckes (1965) stehender Teil der Disziplin der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik sieht Aktualität als eine wichtige Anforderung an den sozialwissenschaftlichen Unterricht. So formuliert Reinhold Hedtke in einem Beitrag zum integrativen Paradigma der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik mit Bezug auf ein von Günter C. Behrmann, Tilmann Grammes und Sybille Reinhardt (2004) entwickeltes Kerncurriculum: „Kategorien und Konflikte bilden den Kern des Unterrichts, dessen wichtigste Leitlinien Aktualitätsprinzip, Fallprinzip und Schülerorientierung sind“ (Hedtke 2005, S. 23). In dieser fachdidaktischen Tradition steht zudem das Lernen an aktuellen Fällen im Mittelpunkt, weshalb auch Sybille Reinhardt in einem Beitrag zum Lernen an Fällen Aktualität des sozialwissenschaftlichen Unterrichts fordert (Reinhardt 2010, S. 523). Für Aktualität im sozialwissenschaftlichen Unterricht spricht, dass durch den Bezug auf einzelne aktuelle Beispiele auf basale gesellschaftliche Konflikte geschlossen und grundlegende Kompetenzen gelernt werden können (Leps 2010, S. 95). Außerdem wecken aktuelle Themen das Interesse der Schülerinnen und Schüler, so dass die Schülerorientierung des sozialwissenschaftlichen Unterrichts durch aktuelle Themen erhöht werden kann (Engelhardt 2010, S. 82). Auch vor dem Hintergrund des Prinzips des Exemplarischen Lernens stellt sich Aktualität als wünschenswert dar, gilt das Tagesaktuelle doch als Ansatzpunkt, um zum dahinterstehenden permanent Aktuellen des Politischen zu gelangen (Grammes 2005, S. 96). Besonders emphatisch formuliert Giesecke, auf welchen das Aktualitätsprinzip zurückzuführen ist: „[…] wie immer man die Aktualität didaktisch oder methodisch einordnen mag, sicher ist, daß sich das Politische als das noch nicht Entschiedene in der kontroversen Aktualität am sichtbarsten zeigt. Die Aktualität repräsentiert in ihrer ganzen Banalität das, was dem politischen Urteil und Handeln aufgegeben ist, sie ist der einzig ‚reale Gegenstand‘ politischen Denkens (Giesecke 1965, S. 41f.). Und weiter heißt es bei Giesecke: „An der Einstellung zur politischen Aktualität entscheidet sich also, ob alles politische Wissen, über das man verfügt, im politischen Ernstfall auch wirklich zur Verfügung steht und am konkreten gesellschaftlichen Ort auch tatsächlich praktiziert werden kann" (Giesecke 1965, S. 45).

Andreas Petrik (2012) hingegen betrachtet Aktualität nicht als normativen Bestandteil eines Kanons der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik und auch im "Handbuch politische Bildung" kommt das Aktualitätsprinzip als Fachdidaktisches Prinzip nicht vor (Sander 2014). Gegen Aktualität spricht, dass durch aktuelle Beispiele einseitige politisch parteiische Positionen in den Unterricht Einzug halten können (Engelhardt 2010, S. 85; Leps 2010, S. 101) und das Aktualitätsprinzip in der Folge in Konflikt mit dem Kontroversitäts- und Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsenses gerät. Ebenfalls gegen Aktualität des sozialwissenschaftlichen Unterrichts spricht, dass die Schülerinnen und Schüler für manche aktuellen Themen noch nicht alt genug sind und Urteilsbildung und Demokratiefähigkeit darum über nicht aktuelle Inhalte des Unterrichts besser gefördert werden können (Engelhardt 2010, S. 85; Leps 2010, S. 101). Schließlich ist zu bedenken, dass sich an aktuellen Beispielen möglicherweise nicht, wie eigentlich mit dem Aktualitätsprinzip intendiert (Grammes 2014, S. 251f.), auf den Kern des Politischen durchstoßen lässt (Engelhardt 2010, S. 85). Demnach ist es besser, sich an politisch-gesellschaftlichen Schlüsselproblemen zu orientieren (Hilligen 1976), beziehungsweise an einem thematischen Kanon/Kerncurriculum (Leps 2010, S. 101). Unterrichtspraktisch wird das Aktualitätenkarussel im sozialwissenschaftlichen Unterricht kritisiert („Aki (Aktualitätenkino) mit Struktur“) (Sybille Reinhard nach Grammes 2014, S. 252), welches vor dem Hintergrund der Ökonomie der Lernzeit (Grammes 2014, S. 251; Fischer 1993, 1960) zwar nachvollziehbar ist, dennoch in einen lediglich meinungsaustauschenden Gelegenheitsunterricht („Laberunterricht“) führen kann (Engelhardt 2010, S. 86; Grammes 2005a, S. 41). So befürchten Kritiker des Aktualitätsprinzips ein „[…] ‘bloßes Andiskutieren‘ von Themen, ‚relativierende Meinungsgirlanden‘ und ‚extemporierendes ‚Betroffenheits‘-Palaver‘“ (Grammes 2005a, S. 41). Besonders virulent ist diese Gefahr bei fachfremd erteiltem Unterricht (Grammes 2005, S. 96), denn das Aktualitätsprinzip erfordert eine hohe Professionalität der Lehrenden, um über den aktuellen Fall hinaus zum Grundsätzlichen vorzudringen (Grammes 2014, S. 253).

In der fachdidaktikwissenschaftlichen Literatur zur hier skizzierten Kontroverse wird der Aktualitätsbegriff überaus unscharf verwendet. Dies liegt wohl daran, dass er auch in der Fachwissenschaft nicht besonders trennscharf verwendet wird. So lassen sich nur wenige genuin sozialwissenschaftliche Beiträge finden, in denen der Aktualitätsbegriff konkret gefasst wird. In der Philosophie wird er als Begriffspaar von Aktualität und Potentialität verwendet (Gessmann 2009). Soziologisch kann er als aktualisierende Verwendung von Sinn innerhalb sozialer Systeme verstanden werden (Luhmann 1994) – wenn man den Aktualitätsbegriff nicht konsequent handlungstheoretisch fassen will (Fuchs-Heinritz 2011). Fachdidaktisch ist dieser soziologische Aktualitätsbegriff instruktiver als der philosophische Aktualitätsbegriff, da er auf unterschiedliche Aktualitäten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einerseits, auf mediale Aktualität andererseits sowie drittens auf die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler selbst verweist (Luhmann 2009). Blickt man auf diese Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler, dann erzeugt die Orientierung an der Aktualität des sozialwissenschaftlichen Unterrichts eine prekäre Position des Prinzips der Schülerorientierung, die sich in einem Spannungsverhältnis von Subjekt (Lerner) und Objekt (dem politischen Gegenstand) als sogenanntes Brückenproblem der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik zeigt (May 2014): Das für die Schülerinnen und Schüler in ihrer Lebenswelt Aktuelle ist selten deckungsgleich mit dem politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich Aktuellen, welches die Lehrkraft wiederum häufig mit dem medial vermittelten Tagesaktuellen einerseits oder dem curricular vorgegebenen permanent Aktuellen andererseits identifiziert. Als Apologet von Schülerorientierung fordert so Wolfgang Sander: „Die in der Diskussion befindlichen Kategoriensysteme sind von Sachlogiken, nicht von Lernlogiken her konzipiert. Sie sagen etwas darüber aus, was die jeweiligen Autoren aus eine fachlich-wissenschaftlichen Sicht für bedeutsam halten, aber sie sagen nichts oder wenig über die Lernbarkeit von Politik [Hervorhebungen im Original – G.R.]“ (Sander 2008, S. 85). Eben dieses fachdidaktische Gebot von Schülerorientierung ist mit Blick auf das Brückenproblem derjenige diskursive Katalysator, welcher zum weiteren Andauern der Kontroverse um das Aktualitätsprinzip in der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik führt.

Literatur

  • Behrmann, Günter C.; Grammes, Tilman; Reinhardt, Sibylle (2004): Politik. Kerncurriculum Sozialwissenschaften in der Oberstufe. Unter Mitarbeit von Peter Hampe. In: Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Kerncurriculum Oberstufe. Biologie, Chemie, Physik, Geschichte, Politik: Beltz Pädagogik, S. 322–406.
  • Engelhardt, Rudolf (2010): Parteipolitik in der Schule? In: Journal of Social Science Education 9 (3), S. 82–86.
  • Fischer, Kurt Gerhard (1993): Das Exemplarische im Politikunterricht. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.
  • Fuchs-Heinritz, Werner (Hg.) (2011): Lexikon zur Soziologie. 5. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Gagel, Walter (1994): Drei didaktische Konzeptionen. Giesecke, Hilligen, Schmiederer. Schwal-bach/Ts.: Wochenschau Verlag.
  • Gessmann, Martin (2009): Aktualisierung. In: Begründet von Heinrich Schmidt, Neu herausgegeben von Martin Gessmann (Hg.): Philosophisches Wörterbuch. 23. Aufl. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, S. 13.
  • Giesecke (1965): Didaktik der politischen Bildung. München: Juventa Verlag.
  • Grammes, Tilman (2005): Exemplarisches Lernen. In: Wolfgang Sander (Hg.): Handbuch politische Bildung. 4. Aufl. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 93–107.
  • Grammes, Tilman (2005a): Das sachlogische Kerncurriculum. In: Eberhard Jung (Hg.): Standards für die politische Bildung. zwischen Weltwissen, Teilhabekompetenz und Lebenshilfe. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 41–61.
  • Grammes, Tilman (2014): Exemplarisches Lernen. In: Wolfgang Sander (Hg.): Handbuch politische Bildung. 4. Aufl. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 249–257.
  • Hedtke, Reinhold: Gemeinsam und unterschieden. Zum Problem der Integration von politischer und ökonomischer Bildung. In: Kashnitz, D. (Hrsg.): Integration von politischer und ökonomischer Bildung? Wiesbaden 2005, S. 21-74.
  • Hilligen, Wolfgang (1976): Wissenschaftliche Voraussetzungen, didaktische Konzeptionen, Praxisbezug. Ein Studienbuch. 2., durchges. Aufl. (Schriften zur politischen Didaktik, 4).
  • Leps, Horst (2010): Kommentar. Kategoriale Konfliktdidaktik als Paradigma politischer Bildung. In: Journal of Social Science Education 9 (3), S. 95–102.
  • Luhmann, Niklas (1994): Soziale Systeme. 4. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Luhmann, Niklas (2009): Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien. In: Niklas Luhmann (Hg.): Soziales System, Gesellschaft, Organisation. 5. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (Soziologische Aufklärung, 3), S. 355–368.
  • May, Michael (2014): Das Brücken-, Urteils- und Emanzipationsproblem als strukturelle Bedingung kompetenten Lehrerhandelns im Sozialkundeunterricht. In: Karin Kleinespel (Hg.): Ein Praxissemester in der Lehrerbildung. Konzepte, Befunde und Entwicklungsperspektiven am Beispiel des Jenaer Modells. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, S. 177–192.
  • Petrik, Andreas (2012): Der heimliche politikdidaktische Kanon. Acht fachdidaktische Prinzipien und sechs „teacher beliefs“ als Kern einer kompetenzorientierten Politiklehrerausbildung. In: Juchler, Ingo (Hg.): Unterrichtsleitbilder in der politischen Bildung: Theoriebildung - Praxisrelevanz - Kontroversen. Schriftenreihe der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau.S. 1-14.
  • Reinhardt, Sibylle (2010): Fachdidaktische Prinzipien als Kern der Fachdidaktik "Politik. In: Gesell-schaft - Wirtschaft - Politik (4), S. 515–525.
  • Sander, Wolfgang (2008): Politik entdecken - Freiheit leben. Didaktische Grundlagen Politischer Bildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.
  • Sander, Wolfgang (Hg.) (2014): Handbuch politische Bildung. 4. Aufl. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.